Über Lernende, Leerende und Lern-Ende

Eine pädagogische Polemik zum «Lehrplan 21»

von John Wolf Brennan, Musiker, Weggis 

Gerne erinnere ich mich an meine “Häfälischüeler“-Zeit. Ich gehöre zu den ungezählten Absolventen, die ihre Ausbildung in grauer Vorzeit absolvierten – erinnert sich noch jemand an Heinrich Pestalozzi? – und rätselhafterweise trotzdem einigermassen deutsch und rechnen lernten.

Ich ging gern zur Schule. Als Importprodukt aus Irland hatte ich mit sieben Jahren das grosse Glück, tolle Lehrerinnen zu haben – von Fräulein Greter, die sechs Primarklassen aufs Mal im einzigen Schulzimmer auf Rigi-Kaltbad managte, über Herrn Doppmann, der uns dank dem Wechsel vom Frühling- auf den Herbstbeginn gleich 2½ Jahre begleitete und im “überzähligen“ Semester uns allen das Schwimmen beibrachte – sozusagen ein Seemester für kommende Seemeister – bis zu Herrn Birrer, der uns auch ausserhalb der Jugendriege zu einer eiserne Grundkondition verhalf, die bis in die Gegenwart anhält – vom überhängend abseilen bis zu 20-Kilometer-Leistungsmärschen. Seine fliegenden Bleistiftspitzer und Radiergummis bei fehlender Aufmerksamkeit sind legendär.

Also: Alles begann mal so übersichtlich wie das 1×1 und das ABC in der 1. Klasse: Lehrer hier, Schüler da. Simple Namen. Köpfe statt Konzepte. Man hörte sich zu, lernte lesen, schreiben, rechnen und auf dem Pausenplatz auch Andere zu tolerieren, selbst wenn sie aus dem Nachbardorf stammten.

Simpel – viel zu simpel für die neunmalklügeren Lehrplanplaner. Diese haben ihren ganzen terminologischen Ehrgeiz und millionenschwere Resourcen in die Umwertung aller Werte geworfen – von der Autozulieferindustrie direkt ins Klassenzimmer. Seitdem dürfen wir uns an der Rechtschreib-ReReReform und an all den däm- und herr-lichen Neologismen unserer “Standardsprache” erfreuen.

Ist doch Mega!

Vom Vor- zum Leidbild

Endlich dürfen wir uns glücklich “Lehrende”, “Lernende” und ”Studierende“ nennen. Das Budget hypertrophiert zum “Globalbudget”, die kommune Unterrichtsvorbereitung zur Qualitätssicherung nach DIN-Norm. Der Steinzeitbegriff “Eltern“ wurde zum Lebensabschnittspartnerschafts-Topservice (LAPTOPS) mit “Erziehungsberechtigten“ oder gar “Erziehungsverpflichteten“. Lebendige Vor-Bilder wurden zu verschwurbelt-virtuellen Leit-Bildern schablonisiert, Köpfe in paritätisch ausgewogenen, auf Konsens getrimmten Kommissionen diszipliniert – mit perfekt austarierten Hirn-Hemisphären. Auf dem Papier.

Kompetenzkompotenzierung: aus 1×1 mach 4753

Der primitiven Primarschule der Antike (also vor 1995) wurde ein PROFIL verpasst, und das dazu notwendige Consulting-Personal muss ja – einmal eingestellt – munter weiter beschäftigt werden. Nachdem zehn Jahre lang die (Re-)FORM über die Inhalte gestülpt wurde, geht die Evolution des Erziehungsunwesens noch einen kühnen Schritt weiter: In der “Schule mit Zukunft“ darf es um die INHALTE gehen. Da ist es nur konsequent, dass im neuen 550seitigen “Lehrplan 21“ nicht weniger als 4753 (in Worten: viertausendsiebenhundertdreiundfünfzig!) Kom-pe-ten-zen isoliert, eruiert und propagiert werden, ohne die einfach nichts mehr geht. Lernende und Lehrende werden endlich zu berechenbaren Taschenrechnern. So altmodische Dinge wie unnützes Wissen, Lernhunger und Neugier (im Dialekt gibt’s dafür das schöne Wort “Gwunder”) sind gründlich wegrationalisiert. Fort-Schritte, wohin man blickt.

Bürokratische Partogenese

Am Nachschub von dickleibigen Berichten mit zahllosen Statistiken wird es auch diesmal nicht mangeln. Es lebe das papierlose Büro! Kein Reförmchen der Re-Reform ist unbedeutend genug, um nicht in Hochglanz verpackt und mit Tortendiagrammen aufgepeppt zu werden, bis hin zur signifikant höheren Sozialkompetenz von Luftbefeuchtern – schliesslich ist dies für jedes Amt die ultimative Daseinsberechtigung. Ämter zaubern sich lässig zuver-lässig selber aus dem Hut und sprechen sich selbstredend die Kompetenz zu, Kompetenzen kompetent zu konfekt- und kollektionieren. Die interkantonale Konferenz der Erziehungsdirektoren funktioniert wie Computer, die mit akribisch-akkurater Ausdauer lauter Probleme lösen, die es ohne sie gar nicht gäbe. Jungferngezeugte Fortpflanzung als In-Zucht der sterilen Art.

Was mit diesem Leerplan 21 in der Praxis geschehen wird, steht freilich auf einem anderen Blatt. Vielleicht sind es ja nicht nur die Lernenden, die in die Lehre gehen müssten, um das verheerende Lern-Ende abzuwenden. Schicken wir doch die gesamte “Classe pédapolitique” wieder in die Schulbank und schalten beim “Lehrplan 21“ in den einzig richtigen – den Leergang.

Manifest

download als pdf (58kb): Manifest Adminus

Wir sind:

Wir sind Menschen, die gerne arbeiten und unser Bestes geben, im Gesundheits­wesen, in der Bildung, im Sozialen, in der Verwaltung, im Kunstbetrieb, in der Wissenschaft oder in der Wirtschaft. Wir sind Menschen, die eigenverantwortlich und mit Herzblut unsere Arbeit tun wollen.

Wir wehren uns dagegen, dass unser Kerngeschäft zunehmend durch bürokratische Inhalte entwertet wird, die uns zu Leistungserbringerinnen, Statistikzulieferern, Formularausfüllern und Berichteverfasserinnen machen.

Für uns stehen die uns anvertrauten Menschen im Mittelpunkt. Wir verwenden unsere Zeit lieber für sie als für Qualitätsmanagement, Optimierungswut, Statistiken und Berichte, die am Ende keiner liest.

Wir fragen:

Was wird mit den erhobenen Daten gemacht? Wer liest sie? Wem bringen sie etwas?

Weiter fragen wir: Wie entsteht Motivation, womit zerstört man sie? Wo und wie wird die Arbeit und deren Erbringer wertgeschätzt? Was ist eine sinnlose, was eine sinnvolle Tätigkeit? Und wie wird eine Tätigkeit sinnerfüllt?

Wir halten fest:

In unseren anspruchsvollen Arbeitsfeldern müssen wir situationsgerecht und kreativ handeln. Dazu braucht es Gestaltungsfreiheit und Handlungsspielraum.

Wir wehren uns dagegen, unter Generalverdacht gestellt zu werden, dass wir inkom­petent und/oder faul und nur durch Misstrauen und Kontrolle zu Leistung zu bringen sind. Diese Haltung beleidigt und führt zur Aufblähung der Bürokratie. Die Kosten dafür gehen zu Lasten des Kernauftrags.

Wir empfinden Bürokratie und Administration zunehmend als missbräuchliche Macht­ausübung und ökonomisch kontraproduktive Manipulation, wodurch Emanzipation, Bildung und Selbst­bestimmung hintertrieben werden.

Durch Messung und falsche Anreize wird oft das Wesentliche einer Leistung ver­schlechtert. Daher lehnen wir künstlichen Wettbewerb ab und stehen dazu, dass wirkliche Qualität oft gar nicht messbar ist.

Immer mehr verschanzen sich die oberen Etagen hinter Labels, Checklisten, Experten, Statistiken und ausgelagerten Kompetenzen. Die permanente Fehlervermeidung führt zu menschlicher Kälte und dem Abschieben von Verantwortung.

Wir wollen wieder subjektive Verantwortung übernehmen statt mit Kennzahlen und Pseudoobjektivität zu neutralen Rädchen in einem anonymen System zu verkommen.

Wir glauben, dass im Interesse der Menschen und der Sache das Miteinander von Führungs- und Feldkompetenz möglich ist und zu menschengerechten Lösungen führt.

Wir vermuten, dass übergeordnete Stellen an guten Lösungen interessiert sind. Es fehlt aber oft das Wissen über die konkrete Situation im Alltag. Auf Grund unserer Nähe zu den Menschen und den Aufgaben wollen wir darum in Entscheidungsprozesse einbezogen werden.

Wir appellieren:

Reduzieren wir die Administration auf das notwendige Minimum.

Entziehen wir uns, wenn immer möglich, dem Zugriff der Manipulation, Bürokratisie­rung und Überkontrolle.

Taten statt Daten!

Erstunterzeichnende:

Teilnehmende und Mitgestaltende der Initial-Tagung „Zur Sache! – Die Fesseln der Bürokratie sprengen“ von www.adminus.ch, 25. Oktober 2014 in Zürich

Esther Wydler – Linard Bardill – Christof Arn – Sina Bardill – Hermann Knoll – Peter Hablützel – Walter Gabriel – Robert Merz – Margrit Dobler – Susi Zeller – Claudia Lobsiger

MANIFEST UND PETITION UNTERZEICHNEN: hier klicken: wp.adminus.ch/petition

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