Kontrolle statt Selbstverantwortung

Der kalkulierte Angriff auf das Selbst

von Sina Bardill

Hartmann und Geppert zeigen in ihrem Buch mit dem Titel „Cluster. Die neue Etappe des Kapitalismus“ (erschienen 2008 im Verlag Assoziation A. in Berlin), mit welchen Mechanismen der Kapitalismus die Menschen dazu bringt, sich selbst, ihre Arbeitskraft in die Hände des Arbeitsmarktes zu geben und damit auch über ihr Selbst bestimmen zu lassen. Systematisch wird Unsicherheit und die Angst vor Abstieg und Ausschluss geschürt und aufrechterhalten, um Widerstand und Selbstsorge im Keim zu ersticken. Die Bürokratisierung von Arbeit kann in dieser Perspektive als Teil dieser Mechanik verstanden werden, weil sie Selbstverantwortung (und damit auch Selbstbewusstsein) durch Kontrolle in vielfältigster Form ersetzt.

Meine Frage an Hans Fässler, St. Gallen, von dem dieser Buchhinweis stammt:

Lässt sich diese Kapitalismuskritik auch auf die Bereiche Gesundheit, Bildung, Soziales etc. übertragen? Es ist doch sehr offensichtlich, dass durch die Überadministration die Produktivität in diesem Bereichen vermindert wird (und ginge es dem Kapitalismus nicht in erster Linie ums Kapital? – um es mal so salopp auszudrücken).

Hans Fässler antwortet in seiner Mail:

„Bezüglich deines sehr berechtigten Einwands, dass ja mit all dem bürokratisch-evaluatorischen Unsinn die Leistung der Arbeiter/innen in Gesundheit, Pflege, Bildung, etc. eher abnimmt, habe ich mir noch gedacht, dass vermutlich die „Herrschenden“ (ein etwas altmodischer Ausdruck, ich weiss) einerseits in ihrem neoliberalen Organisationsentwicklungswahn gar nicht mehr die Übersicht haben, wer wieviel leistet bzw. sich nicht getrauen, diese Frage zu stellen, weil es die ideologische Grundlage erschüttern würden. Und dass sie andererseits die bessere Lenkbarkeit und die Entsolidarisierung der Arbeitenden höher einstufen als die effektive Leistung.“

Eine Zusammenfassung des Buchs ist zu finden unter

http://www.grundrisse.net/buchbesprechungen/detlef_hartmann_gerald_geppert.htm

«Entscheiden ist nicht mehr in. In ist das Reglement.»

Das sagt Pius Knüsel in seiner letzte Vernissage-Rede als Pro-Helvetia-Direktor. Ein kurzer Text, der nachdenklich macht und zugleich Mut.

Nachdenklich: «Die Spielräume schrumpfen – das ist die Folge der zunehmenden Administrierung …»
Mut: «Ich bin öfters auf die Nase gefallen. Darüber bin ich glücklich. Im politischen und sozialen Kontext heißt entscheiden, unglaubliche Erfahrungen zu machen. Wer Risiken in Kauf nimmt, erfährt Ausschluss und Umarmung. Er läuft gegen die Wand. Oder durch Türen, von deren Existenz er nichts wusste. Manchmal reicht der Wille allein, damit sie sich öffnen.»
Zu lesen bei Zeit online: http://www.zeit.de/2012/39/Pius-Knuesel-Pro-Helvetia-Ruecktritt-Rede

Über Lernende, Leerende und Lern-Ende

Eine pädagogische Polemik zum «Lehrplan 21»

von John Wolf Brennan, Musiker, Weggis 

Gerne erinnere ich mich an meine “Häfälischüeler“-Zeit. Ich gehöre zu den ungezählten Absolventen, die ihre Ausbildung in grauer Vorzeit absolvierten – erinnert sich noch jemand an Heinrich Pestalozzi? – und rätselhafterweise trotzdem einigermassen deutsch und rechnen lernten.

Ich ging gern zur Schule. Als Importprodukt aus Irland hatte ich mit sieben Jahren das grosse Glück, tolle Lehrerinnen zu haben – von Fräulein Greter, die sechs Primarklassen aufs Mal im einzigen Schulzimmer auf Rigi-Kaltbad managte, über Herrn Doppmann, der uns dank dem Wechsel vom Frühling- auf den Herbstbeginn gleich 2½ Jahre begleitete und im “überzähligen“ Semester uns allen das Schwimmen beibrachte – sozusagen ein Seemester für kommende Seemeister – bis zu Herrn Birrer, der uns auch ausserhalb der Jugendriege zu einer eiserne Grundkondition verhalf, die bis in die Gegenwart anhält – vom überhängend abseilen bis zu 20-Kilometer-Leistungsmärschen. Seine fliegenden Bleistiftspitzer und Radiergummis bei fehlender Aufmerksamkeit sind legendär.

Also: Alles begann mal so übersichtlich wie das 1×1 und das ABC in der 1. Klasse: Lehrer hier, Schüler da. Simple Namen. Köpfe statt Konzepte. Man hörte sich zu, lernte lesen, schreiben, rechnen und auf dem Pausenplatz auch Andere zu tolerieren, selbst wenn sie aus dem Nachbardorf stammten.

Simpel – viel zu simpel für die neunmalklügeren Lehrplanplaner. Diese haben ihren ganzen terminologischen Ehrgeiz und millionenschwere Resourcen in die Umwertung aller Werte geworfen – von der Autozulieferindustrie direkt ins Klassenzimmer. Seitdem dürfen wir uns an der Rechtschreib-ReReReform und an all den däm- und herr-lichen Neologismen unserer “Standardsprache” erfreuen.

Ist doch Mega!

Vom Vor- zum Leidbild

Endlich dürfen wir uns glücklich “Lehrende”, “Lernende” und ”Studierende“ nennen. Das Budget hypertrophiert zum “Globalbudget”, die kommune Unterrichtsvorbereitung zur Qualitätssicherung nach DIN-Norm. Der Steinzeitbegriff “Eltern“ wurde zum Lebensabschnittspartnerschafts-Topservice (LAPTOPS) mit “Erziehungsberechtigten“ oder gar “Erziehungsverpflichteten“. Lebendige Vor-Bilder wurden zu verschwurbelt-virtuellen Leit-Bildern schablonisiert, Köpfe in paritätisch ausgewogenen, auf Konsens getrimmten Kommissionen diszipliniert – mit perfekt austarierten Hirn-Hemisphären. Auf dem Papier.

Kompetenzkompotenzierung: aus 1×1 mach 4753

Der primitiven Primarschule der Antike (also vor 1995) wurde ein PROFIL verpasst, und das dazu notwendige Consulting-Personal muss ja – einmal eingestellt – munter weiter beschäftigt werden. Nachdem zehn Jahre lang die (Re-)FORM über die Inhalte gestülpt wurde, geht die Evolution des Erziehungsunwesens noch einen kühnen Schritt weiter: In der “Schule mit Zukunft“ darf es um die INHALTE gehen. Da ist es nur konsequent, dass im neuen 550seitigen “Lehrplan 21“ nicht weniger als 4753 (in Worten: viertausendsiebenhundertdreiundfünfzig!) Kom-pe-ten-zen isoliert, eruiert und propagiert werden, ohne die einfach nichts mehr geht. Lernende und Lehrende werden endlich zu berechenbaren Taschenrechnern. So altmodische Dinge wie unnützes Wissen, Lernhunger und Neugier (im Dialekt gibt’s dafür das schöne Wort “Gwunder”) sind gründlich wegrationalisiert. Fort-Schritte, wohin man blickt.

Bürokratische Partogenese

Am Nachschub von dickleibigen Berichten mit zahllosen Statistiken wird es auch diesmal nicht mangeln. Es lebe das papierlose Büro! Kein Reförmchen der Re-Reform ist unbedeutend genug, um nicht in Hochglanz verpackt und mit Tortendiagrammen aufgepeppt zu werden, bis hin zur signifikant höheren Sozialkompetenz von Luftbefeuchtern – schliesslich ist dies für jedes Amt die ultimative Daseinsberechtigung. Ämter zaubern sich lässig zuver-lässig selber aus dem Hut und sprechen sich selbstredend die Kompetenz zu, Kompetenzen kompetent zu konfekt- und kollektionieren. Die interkantonale Konferenz der Erziehungsdirektoren funktioniert wie Computer, die mit akribisch-akkurater Ausdauer lauter Probleme lösen, die es ohne sie gar nicht gäbe. Jungferngezeugte Fortpflanzung als In-Zucht der sterilen Art.

Was mit diesem Leerplan 21 in der Praxis geschehen wird, steht freilich auf einem anderen Blatt. Vielleicht sind es ja nicht nur die Lernenden, die in die Lehre gehen müssten, um das verheerende Lern-Ende abzuwenden. Schicken wir doch die gesamte “Classe pédapolitique” wieder in die Schulbank und schalten beim “Lehrplan 21“ in den einzig richtigen – den Leergang.

Worst-Case-Geschichte «Der neue Auftritt»

Eine aktuelle, wahre Geschichte – anonymisiert:
Nehmen wir an, es geht um die Kirchgemeinde einer grossen Gemeinde, sagen wir: im Kanton Zürich. Da der Kanton ein neues Erscheinungsbild eingeführt hat (Drucksachen, Beschriftungen, Internet etc.), soll auch die Kirchgemeinde ihre Auftritt entsprechend anpassen. Viel Arbeit. Die zuständige Sekretärin fällt nach kurzer Zeit aus: krankgeschrieben, Diagnose Burnout. Was jetzt? Alle Mitarbeitenden werden in die Schulung für das neue Erscheinungsbild geschickt – Jugendarbeit, Pfarrpersonen, Musik, Diakonie, Sozialarbeit, Kinder+Familie, Oekumene – alle. Sie sollen neu ihre Unterlagen selbst gestalten – natürlich nach den neuen Vorgaben. Es wird geflucht, geächzt und gestöhnt. Dieser Aufwand! Und oft funktioniert es nicht (Software? Druckprobleme? Unvermögen?). Nach längerer Murkserei erfährt das Team, dass der Kanton seinen Auftritt schon nach zwei Jahren wieder ändert. Dies sei bei Beginn des Gemeindeprojektes bereits bekannt gewesen.

Gehört, anonymisiert und aufgeschrieben von Sina Bardill

Wer jammert wehrt sich nicht

Jammern kann gut tun: Leid teilen, Psychohygiene betreiben. Wenn es dabei bleibt, geht es uns trotzdem immer schlechter, wenn sich die Verhältnisse nicht ändern. Aus dem kindlichen Opfersein wächst keine Veränderung. Dafür braucht es ein erwachsenes Ich, dass sich für Verbesserungen stark macht.

Rolf Haubl, Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie, sagt in der Radiosendung Kontext vom 1. Mai 2014, es bringe nicht weiter, das System zu dämonisieren, welches schuld ist an der Misere. Vielmehr gehe es darum, die ökonomischen Argumente zu durchschauen und sich zunutze zu machen. Widerständige Menschen müssten ihre Anliegen ebenso ökonomisch fundieren.

Kann es bei der ganzen Bürokratisierung wirklich um Ökonomie gehen? Es ist doch so offensichtlich, dass der Formularkrieg viel mehr Aufwand als Ertrag produziert. Es wird aufschlussreich sein, an der Tagung vom 25. Oktober darüber gemeinsam weiter nachzudenken.

Sina Bardill

Bürokratie: Ähnliches mit Ähnlichem bekämpfen

Entnervt von den Kontrollen, bei denen Bauern mit industriellen Produzenten über eine Leiste geschlagen werden, hat der Südbündner Biobauer Markus Lanfranchi zu einem «Befreiungsschlägli» ausgeholt. Er hat zwei Formulare kreiert, mit denen die Arbeit der Kontrolleure überprüft wird.

Archiviert werden sie von der Bauerngewerkschaft Uniterre, was die Identifikation schwarzer Schafe unter den Kontrolleuren erleichtert. Es gibt nämlich auch solche, die ihre Kontrollen je nach Sympathie ganz unterschiedlich durchführen.

Mit dem nachfolgenden Text hat Markus Lanfranchi seine Idee im Bekanntenkreis und in kritischen bäuerlichen Organisationen lanciert:

Überprüfte überprüfen Überprüfer

Mit dem so genannten Strukturwandel in der Landwirtschaft, geben zunehmend bodenferne Kräfte den Ton an: während Fahr- und Flugzeuge unbehindert Lärm und Gestank verursachen, die Agrarindustrie mit ihren unberechenbaren Chemikalien und Genspielereien Leben aller Art auslöscht, multinationale Lebensmittelverarbeiter krank machende oder gar tödliche Lebens-Mittel auf die Märkte bringen, Böden unbehelligt versiegelt werden dürfen und der bäuerlichen Landwirtschaft den Garaus machen, scheint es kaum Mächte zu geben, welche sich von der allgegenwärtigen Raubtiermentalität distanzieren und sich an den gesunden Menschenverstand erinnern. Selbst «unser» Kind BioSuisse und die mit ihr verbundene Forschungsanstalt Fibl haben die Seite gewechselt und spielen heute in der «Superliga» ums grosse Geld!

So sind wir ohne grosse Hilfe von aussen dem enormen Druck der Kontrollinstanzen ausgesetzt, welche kaum einen Unterschied machen, ob es sich, bei den zu Kontrollierenden nun um industrielle Anlagen oder bäuerliche Höfe handelt. Wir stehen mit unseren organisch gewachsenen Strukturen im direkten Wettbewerb mit der Industrie. Entscheidend wichtig ist es nun Wege zu finden unserer Ohnmacht in Sachen «Kontrollen aller Art» etwas entgegenzusetzen. Hierfür haben wir ein Formular entworfen, das helfen soll, einerseits den einzelnen Kontrolleuren nicht die gesamte Macht zu überlassen und andererseits unsere Position schwarz auf weiss mit zu teilen.

So können wir persönliche Angriffe beider Seiten eher verhindern, um einen Austausch in gegenseitigem Respekt zu führen.

 

Welche Bäuerin, welcher Bauer kennt das nicht, mitten im Tagesgeschehen mit oder ohne Anruf: Betriebskontrolle!

Jemand aus unserem Umfeld hat beim Kantonstierarzt Tierschutzbedenken angemeldet, die Umsetzung der Bioverordnungen angezweifelt oder die Verarbeitung, den Hofverkauf beanstandet, Belästigungen angemeldet durch Geruch, Gekrähe, Geläut, optischer Natur und so weiter. Dann heisst es eben: Kontrolle, oder anders herum: unser Staatsapparat will der «Kontrollitis» nicht Einhalt gebieten.

Meistens kommt dann ein Herr, eine Frau,welcher/e die Situation prüft. Da wird es ernst. Kommen wir als Bauern noch zu Wort – sind wir schon vorverurteilt? Wird die Gesamtsituation berücksichtigt? Werden unsere Argumente ernsthaft angehört? Haben wir das Gefühl, die Kontrollperson habe Sachkenntnis? Werden wir gebührend respektiert?

Diese und andere Fragen und ausstehende Antworten bleiben uns Vielkontrollierten meistens im Hals stecken. Zurück bleiben nicht selten Frustration und Wut.

Dies kann nicht im Interesse der Kontrollinstanzen sein und noch viel weniger im Interesse von uns Bauern.

Deshalb bieten wir diese Formulare über verschiedene Foren und Webseiten (hier download):

http://blauzungenimpfung.ch

http://tsg-referendum.ch

www.agrarinfo.ch

…oder per e-mail bei sm.lanfranchi@bluewin.ch

 

Einfach anklicken, ausdrucken, ausfüllen und die Kopie an: Bauerngewerkschaft Uniterre, Av. du Grammont 9, 1007 Lausanne senden. Je mehr wir Bauern dies tun werden, um so mehr werden die Kontrolleure einen konstruktiven Dialog suchen… und wir sind unsere negativen Gefühle los.

Von der Politik und den Ämtern können wir nicht erwarten, dass sie die positive Befindlichkeit der Bauern fördern. Deshalb tun wir das in Eigenverantwortung!

 

(Die beiden Formulare, eines für Betriebskontrolle und ein anderes für Tierarztbesuche, enthalten Positionen wie

• Der Tierarzt respektiert ethisch/moralische zwischenmenschliche Umgangsformen und bezieht den Tierhalter in die Mitentscheidung der ev. Behandlung seines Tieres ein.

• Wurde ich angehört?

• Fühle ich mich vorverurteilt?

Die Formulare werden von von den Kontrolleuren und den betroffenen Landwirten unterschrieben.)    CP

«Formularkrieg», das Themenheft zur Bürokratie

Alle wollen nur das Beste, oder, wie man heute sagen muss: die Optimierung. Aber heraus kommt eine Steuerungs- und Kontrollmaschine, die nicht nur die Grenzen der Wirksamkeit erreicht hat, sondern einen Schaden anrichtet, der uns schon bald tüchtig um die Ohren fliegen wird. Dies zeigt der neuste Zeitpunkt mit dem Schwerpunktthema “Formularkrieg”. Es ist am Kiosk für Fr. 10.- erhältlich oder direkt beim Verlag als Schnupperabo (3 Ausgaben für Fr.20.- statt 30.- am Kiosk). Bestelllink

Inhalt:

Editorial: Die Optimierung der Sackgasse                 Christoph Pfluger

Der soziale Materialismus: Was die Industrialisierung nicht vollbracht hat, schafft nun die Bürokratisierung        Christoph Pfluger

Das Beamtenbegräbnis      Cartoon von Petra Kaster

Im Gehäuse der Hörigkeit         Dieter Freiburghaus