Wenn Fortschritt den Rückschritt erzwingt

von Claudia Brunner

Welchen Beruf habe ich eigentlich gelernt? Informatikerin? Bürofachangestellte? Oder doch irgendwann einmal Krankenschwester, bzw. Pflegefachfrau?

Solche Fragen beschäftigen mich, wenn ich mit zappelnden Beinen im Spitexzentrum vor einem dieser Computer sitze. Seit geraumer Zeit versuche ich, die Software zu überreden, doch bitte die Pflegediagnose «Selbstpflegedefizit: Körperpflege» anzunehmen. Leider gelingt es mir nicht, da die Wahrscheinlichkeit dazu keine 10 Prozent beträgt. Ich kann also die Diagnose nicht verifizieren lassen und muss stattdessen «beeinträchtigte Mobilität» wählen. Ich dachte, ich würde die Kundin besser kennen. Vielleicht aber mache ich wirklich einen Überlegungsfehler, entweder im Umgang mit der Software oder tatsächlich im Zusammenhang mit der hilfsbedürftigen Kundin. Es ist einfach absurd. Ich möchte lediglich in einem banalen Satz schreiben, dass die Kundin für ihre Sicherheit Unterstützung beim Duschen benötigt. Wohl zu wenig akademisch und zu banal. Noch sehe ich nicht, worin der heutige Fortschritt die Arbeit zwischen uns Menschen vereinfachen soll.

Der Versuch, den Menschen in seinem so wunderbar komplexen Wesen und Umfeld zu schematisieren, mag mutig und für Berechnungen interessant sein. Doch wenn sich unser Handeln und Verhalten zunehmend nach diesen Schemen ausrichten, dann betrachte ich diesen Versuch als irreführend und sogar als fahrlässig. Das instinktive Reagieren wird durch Kompetenzeinschränkungen erschwert.

In der Praxis ist das Diagnostizieren und Schematisieren in allen möglichen und noch so todesnahen Lebenslagen jedoch längstens Realität. Denn nur so kann abgerechnet werden, und wo das Geld verlockend klimpert (und dennoch fehlt), muss zwingend streng abgerechnet werden. Aber wie leicht vertrauen wir dem, was auf Papier oder bald nur noch auf dem Bildschirm steht.

In diesem Beruf, der so sehr auf Zwischenmenschlichkeit basiert und Fähigkeiten verlangt, die niemals digital erfasst werden können, empfinde ich die Elektronik als störend. Meist raubt sie mir wertvolle Zeit, weil sie, wie wir Menschen, nicht einwandfrei funktioniert. So ist die scheinbar gewonnene Zeit bald wieder verloren.

Aber was, wenn ich die Arbeit nicht mehr mit meinen Idealen vereinbaren kann? Habe ich mich in meinem Beruf verfehlt? Hat der rasche Fortschritt mich überholt? Bin ich zu idealistisch? Und warum entfernen wir uns immer mehr von dem, was uns gesund machen könnte?

Ich kann gehen, dieses Privileg habe ich noch. Ist es feige? Oder einfach eine ehrliche Konsequenz? Was, wenn alle gehen könnten, die wollen? Was geschieht mit den Zurückbleibenden? Wird dann die Realität vom Büro aus überwacht? Und wer versorgt die Realität? Roboter?

Ich versuche mit diesen Gedanken ein lesbares Zeichen zu setzen. Ein Zeichen der Unzufriedenheit, der fehlenden Sorgfalt, der vielen unbeantworteten Fragen, der zu hohen Geschwindigkeit, und ein Zeichen zur Erinnerung, dass wir alle noch immer als geniale Menschenwesen in individueller und durchaus verletzbarer Sensibilität leben.

 

Die Autorin, Claudia Brunner, gelernte Pflegefachfrau aus Zürich, hat vor kurzem resigniert ihren Beruf an den Nagel gehängt. Kontakt: claudia_br20@hotmail.com

Mehr zum Thema Bürokratie im Schwerpunktheft «Formularkrieg»

Worst-Case-Geschichte «Der neue Auftritt»

Eine aktuelle, wahre Geschichte – anonymisiert:
Nehmen wir an, es geht um die Kirchgemeinde einer grossen Gemeinde, sagen wir: im Kanton Zürich. Da der Kanton ein neues Erscheinungsbild eingeführt hat (Drucksachen, Beschriftungen, Internet etc.), soll auch die Kirchgemeinde ihre Auftritt entsprechend anpassen. Viel Arbeit. Die zuständige Sekretärin fällt nach kurzer Zeit aus: krankgeschrieben, Diagnose Burnout. Was jetzt? Alle Mitarbeitenden werden in die Schulung für das neue Erscheinungsbild geschickt – Jugendarbeit, Pfarrpersonen, Musik, Diakonie, Sozialarbeit, Kinder+Familie, Oekumene – alle. Sie sollen neu ihre Unterlagen selbst gestalten – natürlich nach den neuen Vorgaben. Es wird geflucht, geächzt und gestöhnt. Dieser Aufwand! Und oft funktioniert es nicht (Software? Druckprobleme? Unvermögen?). Nach längerer Murkserei erfährt das Team, dass der Kanton seinen Auftritt schon nach zwei Jahren wieder ändert. Dies sei bei Beginn des Gemeindeprojektes bereits bekannt gewesen.

Gehört, anonymisiert und aufgeschrieben von Sina Bardill

Wer jammert wehrt sich nicht

Jammern kann gut tun: Leid teilen, Psychohygiene betreiben. Wenn es dabei bleibt, geht es uns trotzdem immer schlechter, wenn sich die Verhältnisse nicht ändern. Aus dem kindlichen Opfersein wächst keine Veränderung. Dafür braucht es ein erwachsenes Ich, dass sich für Verbesserungen stark macht.

Rolf Haubl, Professor für psychoanalytische Sozialpsychologie, sagt in der Radiosendung Kontext vom 1. Mai 2014, es bringe nicht weiter, das System zu dämonisieren, welches schuld ist an der Misere. Vielmehr gehe es darum, die ökonomischen Argumente zu durchschauen und sich zunutze zu machen. Widerständige Menschen müssten ihre Anliegen ebenso ökonomisch fundieren.

Kann es bei der ganzen Bürokratisierung wirklich um Ökonomie gehen? Es ist doch so offensichtlich, dass der Formularkrieg viel mehr Aufwand als Ertrag produziert. Es wird aufschlussreich sein, an der Tagung vom 25. Oktober darüber gemeinsam weiter nachzudenken.

Sina Bardill

Bürokratie: Ähnliches mit Ähnlichem bekämpfen

Entnervt von den Kontrollen, bei denen Bauern mit industriellen Produzenten über eine Leiste geschlagen werden, hat der Südbündner Biobauer Markus Lanfranchi zu einem «Befreiungsschlägli» ausgeholt. Er hat zwei Formulare kreiert, mit denen die Arbeit der Kontrolleure überprüft wird.

Archiviert werden sie von der Bauerngewerkschaft Uniterre, was die Identifikation schwarzer Schafe unter den Kontrolleuren erleichtert. Es gibt nämlich auch solche, die ihre Kontrollen je nach Sympathie ganz unterschiedlich durchführen.

Mit dem nachfolgenden Text hat Markus Lanfranchi seine Idee im Bekanntenkreis und in kritischen bäuerlichen Organisationen lanciert:

Überprüfte überprüfen Überprüfer

Mit dem so genannten Strukturwandel in der Landwirtschaft, geben zunehmend bodenferne Kräfte den Ton an: während Fahr- und Flugzeuge unbehindert Lärm und Gestank verursachen, die Agrarindustrie mit ihren unberechenbaren Chemikalien und Genspielereien Leben aller Art auslöscht, multinationale Lebensmittelverarbeiter krank machende oder gar tödliche Lebens-Mittel auf die Märkte bringen, Böden unbehelligt versiegelt werden dürfen und der bäuerlichen Landwirtschaft den Garaus machen, scheint es kaum Mächte zu geben, welche sich von der allgegenwärtigen Raubtiermentalität distanzieren und sich an den gesunden Menschenverstand erinnern. Selbst «unser» Kind BioSuisse und die mit ihr verbundene Forschungsanstalt Fibl haben die Seite gewechselt und spielen heute in der «Superliga» ums grosse Geld!

So sind wir ohne grosse Hilfe von aussen dem enormen Druck der Kontrollinstanzen ausgesetzt, welche kaum einen Unterschied machen, ob es sich, bei den zu Kontrollierenden nun um industrielle Anlagen oder bäuerliche Höfe handelt. Wir stehen mit unseren organisch gewachsenen Strukturen im direkten Wettbewerb mit der Industrie. Entscheidend wichtig ist es nun Wege zu finden unserer Ohnmacht in Sachen «Kontrollen aller Art» etwas entgegenzusetzen. Hierfür haben wir ein Formular entworfen, das helfen soll, einerseits den einzelnen Kontrolleuren nicht die gesamte Macht zu überlassen und andererseits unsere Position schwarz auf weiss mit zu teilen.

So können wir persönliche Angriffe beider Seiten eher verhindern, um einen Austausch in gegenseitigem Respekt zu führen.

 

Welche Bäuerin, welcher Bauer kennt das nicht, mitten im Tagesgeschehen mit oder ohne Anruf: Betriebskontrolle!

Jemand aus unserem Umfeld hat beim Kantonstierarzt Tierschutzbedenken angemeldet, die Umsetzung der Bioverordnungen angezweifelt oder die Verarbeitung, den Hofverkauf beanstandet, Belästigungen angemeldet durch Geruch, Gekrähe, Geläut, optischer Natur und so weiter. Dann heisst es eben: Kontrolle, oder anders herum: unser Staatsapparat will der «Kontrollitis» nicht Einhalt gebieten.

Meistens kommt dann ein Herr, eine Frau,welcher/e die Situation prüft. Da wird es ernst. Kommen wir als Bauern noch zu Wort – sind wir schon vorverurteilt? Wird die Gesamtsituation berücksichtigt? Werden unsere Argumente ernsthaft angehört? Haben wir das Gefühl, die Kontrollperson habe Sachkenntnis? Werden wir gebührend respektiert?

Diese und andere Fragen und ausstehende Antworten bleiben uns Vielkontrollierten meistens im Hals stecken. Zurück bleiben nicht selten Frustration und Wut.

Dies kann nicht im Interesse der Kontrollinstanzen sein und noch viel weniger im Interesse von uns Bauern.

Deshalb bieten wir diese Formulare über verschiedene Foren und Webseiten (hier download):

http://blauzungenimpfung.ch

http://tsg-referendum.ch

www.agrarinfo.ch

…oder per e-mail bei sm.lanfranchi@bluewin.ch

 

Einfach anklicken, ausdrucken, ausfüllen und die Kopie an: Bauerngewerkschaft Uniterre, Av. du Grammont 9, 1007 Lausanne senden. Je mehr wir Bauern dies tun werden, um so mehr werden die Kontrolleure einen konstruktiven Dialog suchen… und wir sind unsere negativen Gefühle los.

Von der Politik und den Ämtern können wir nicht erwarten, dass sie die positive Befindlichkeit der Bauern fördern. Deshalb tun wir das in Eigenverantwortung!

 

(Die beiden Formulare, eines für Betriebskontrolle und ein anderes für Tierarztbesuche, enthalten Positionen wie

• Der Tierarzt respektiert ethisch/moralische zwischenmenschliche Umgangsformen und bezieht den Tierhalter in die Mitentscheidung der ev. Behandlung seines Tieres ein.

• Wurde ich angehört?

• Fühle ich mich vorverurteilt?

Die Formulare werden von von den Kontrolleuren und den betroffenen Landwirten unterschrieben.)    CP

Qualitätskontrolle: einfach irgendetwas aufgeschrieben

Ich führte während fast 40 Jahren eine Emmentaler Käserei. Dabei war ich sehr aktiv in der Qualitätssicherung tätig. Wir erarbeiteten in Erfahrungsaustausch-Gruppen ein sehr effektives und einfaches Qualitäts-Management, und der Erfolg war sehr gut. Die Emmentaler-Qualität in den 90er Jahren war so hoch wie nie zuvor (über 90 % Spitzenqualität). Dann wurde der EWR bachab geschickt und die Schweiz war gezwungen, das Qualitätssicherungssystem der EU fünf Jahre vor der EU einzuführen, sonst hätten wir kein Kilogramm Käse mehr exportieren können.
Dieses neue System war sehr kompliziert und basierte auf unendlich vielen Aufzeichnungen, wodurch mein Sohn und Nachfolger nicht mehr in der Lage war, die nötigen chemischen Analysen für die Qualitätssicherung auszuführen. Seine Aufzeichnungen basierten nicht mehr auf effektiven Werten, sondern er notierte einfach irgendetwas, um die Aufzeichnungen bei den Kontrollen vorzeigen zu können.
Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie verheerend die Bürokratie ist, aber auch, dass unser Abseitsstehen langfristig auch nicht die ideale Lösung ist. Wir müssen die Vorschriften der EU buchstabengetreu umsetzen, ohne auch nur «Paps» dazu sagen zu können.

(Der Autor, ein pensionierter Käsermeister, ist Adminus bekannt)

Deutschland will Pflegekräfte bürokratisch entlasten

Mrz 24 2014 · 0 comments · Gesundheit

Viele Pflegekräfte, aber auch Angehörige von Pflegebedürftigen sind unzufrieden mit dem Umfang des bürokratischen Aufwands in der Pflege. Das Bundesministerium für Gesundheit hat daher ein Projekt zum Bürokratieabbau in der Pflege unterstützt.

Die in der Zeit von September 2013 bis Januar 2014 erprobten Vorschläge zur Vereinfachung der Pflegedokumentation wurden vor kurzem in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt. 

Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit Lutz Stroppe: «Was Pflegekräfte wirklich brauchen, ist Zeit für die Pflege. Wir müssen die bürokratischen Belastungen deshalb auf das Maß reduzieren, das zur Qualitätssicherung wirklich notwendig ist. Weniger Bürokratie bei der Pflegedokumentation entlastet Pflegekräfte und pflegende Angehörige und schafft mehr Zeit für die eigentliche Aufgabe: die Pflege.»

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Hitzige Debatte zur Überadministration in der Palliative Care

Am Palliative Care Gr Abend letzte Woche in Chur erhielt Frau Tobler von der Pro Senectute den einzigen Szenenaplaus des Abends, als sie ihrer Hoffnung Ausdruck verlief, doch bald wieder Zeit für die Menschen zu haben, anstatt für den die Administration. Als ich in der Frage aus dem Publikums Runde auf das Heft des Zeitpunkts “Formularkrieg” aufmerksam machte und fragte, was denn die Palliativ Leute vorhätten, um sich gegen die Überadministration zu wehren, entbrannte eine halbstündige hitzige Debatte, auf dem Podium, eine Debatte, die ohne Ausnahme die grassierende Formularitis beklagte. Der Chefarzt der Palliativ Klinik in Affoltern am Albis, Doktor Kuhn erklärte, dass er heute 3 Formulare zu bewältigen hatte, die 1. nur von ihm ausgefüllt werden konnten, und 2. ihm nahezu 2 Stunden Arbeit gekostet hatte. Zeit, die er nicht bei den Patienten verbringen konnte. Würde er die Formulare nicht ausfüllen könne er seine Klinik zumachen (sic wörtlich!) In diesem Stil “tobte” es herüber und hinüber. Die 10 “Zeitpunkte” waren im Nu weg. Ich konnte ein Exemplar persönlich Herrn Candinas, dem Oberländer Nationalrat der CVP Graubünden überreichen, dieser hatte verzweifelt versucht, die Politik aus der Schusslinie heraus zu reden. Was Herr Dieter Steudel von der Freiwilligenorganisation TECUM zu bedenken gab war interessant. Er meinte, dass wir alle mit beteiligt seien an der Verantwortung für den Formularkrieg. Jeder wolle weniger zahlen und bessere Leistungen dafür bekommen. Daher die Evaluiererei, Kontrolljunkismus, Verschriftlichungsparanoia, Nachvollzugsgläubigkeit und Verbesserungsmanagement durch Ausfüllterror etc. Es sei ein gesellschaftliches Problem, an dem wir alle etwas ändern müssten. Es habe auch damit zu tun, Fehler machen zu können und zu dürfen. Lehrer wollen nicht mehr ins Skilager, weil sie mit einem Fuss immer gleich im Gefängnis stehen. etc etc.
Das Thema ist auf jeden Fall top aktuell und in der Gesundheitsbranche brennt es unter allen Nägeln. Die Palliativ Section ist jetzt gerade auf dem Bundesformularkrieger Radar. Mehrere Vollangestellte, die vermutlich noch nie am Bett eines Sterbenden waren, sind seit einiger Zeit am Papier brünzlen, um die Palliativ Care zu verbessern. Für 180’000 Franken Lohnsumme im Jahr. Gnad Gott!
Herr Vinzenz vom Kantonsspital Chur meinte, das Spital habe das Problem erkannt und übe sich im silmmen (der genaue Fachausdruck ist mir entfallen, auf jeden Fall ein Papier gegen die Papierschwemme, das jetzt umgesetzt werden soll). Wir sind mit dem Thema also goldrichtig. Nur nicht nachgeben. Die Tagung im Oktober darf voll werden
Ich bin sowie so für eine 10% Initiative zur Reduktion von Papier und Administration im öffentlichen Bereich. herzlich Linard Bardill

«Formularkrieg», das Themenheft zur Bürokratie

Alle wollen nur das Beste, oder, wie man heute sagen muss: die Optimierung. Aber heraus kommt eine Steuerungs- und Kontrollmaschine, die nicht nur die Grenzen der Wirksamkeit erreicht hat, sondern einen Schaden anrichtet, der uns schon bald tüchtig um die Ohren fliegen wird. Dies zeigt der neuste Zeitpunkt mit dem Schwerpunktthema “Formularkrieg”. Es ist am Kiosk für Fr. 10.- erhältlich oder direkt beim Verlag als Schnupperabo (3 Ausgaben für Fr.20.- statt 30.- am Kiosk). Bestelllink

Inhalt:

Editorial: Die Optimierung der Sackgasse                 Christoph Pfluger

Der soziale Materialismus: Was die Industrialisierung nicht vollbracht hat, schafft nun die Bürokratisierung        Christoph Pfluger

Das Beamtenbegräbnis      Cartoon von Petra Kaster

Im Gehäuse der Hörigkeit         Dieter Freiburghaus